(K)Einmal Veränderung, bitte (von ESW )

(K)Einmal Veränderung, bitte (von ESW )

Abschätzend tastet sich mein Blick über die Landschaft hinter dem Fenster. Der Wind zerrt an den nackten Ästen der Bäume, während ich die Kälte durch die Scheiben spüre. Letztes Jahr hatte es zu dieser Zeit noch geschneit.

Vor unserem Umzug konnte ich den Spielplatz sehen, der zum Treffpunkt meiner Freunde geworden war. Ich erinnere mich an den zertretenen Rasen und das Gelächter von allen, die in kuschelige Jacken gepackt auf den Bänken saßen und erzählten. Trotz der Jahreszeit wurden wir von den warmen Strahlen der Sonne geblendet. An diesem Ort sprachen wir über alles, dass uns beschäftigte. Kein Thema war uns zu unangenehm oder peinlich, denn wir wussten, dass wir einander vertrauen konnten.

Nun sehe ich eintönige, nackte Felder, die sich bis zum Horizont erstrecken. Ab und zu ist da ein Baum. Es ist neblig, dunkel und kalt. Die Sonne ist hinter einer dichten, grauen Wolkenwand gefangen. Hinter mir spüre ich den anklagenden Blick meines Schreibtisches, der unter der Masse an Heften und Büchern für die Schule einzubrechen droht. Nachdenklich sammele ich die Gegenstände auf und verfrachte sie in mein Regal, das ich am Vortag mit meinem Vater aufgebaut habe. Zufrieden mit meinem Werk, wende ich mich dem letzten Umzugskarton zu, der verlassen in einer Ecke meines Zimmers steht.

Ich weiß noch, wie meine Freunde morgens am Bahnhof auf mich gewartet haben, damit wir zusammen zur Schule gehen konnten. Obwohl ich es nicht gerne zugebe, war die Schule zu meinem zweiten Zuhause geworden. Man wusste, welche Lehrer einem eine sechs gaben, wenn man die Hausaufgaben vergessen hatte, bei welchen man irgendwie nichts lernte und immer gute Noten hatte und bei welchen Lehrern man den ganzen Tag im Unterricht sitzen konnte und wirklich Spaß hatte. Letztere waren selten und dadurch kostbare Stunden im Schulalltag. Ich hatte das Glück damals mit meiner Geschichtslehrerin:

Vollgepackt mit ihrer Tasche, aus der man die Papiere und Bücher sehen konnte, und einer Tasse dampfender Kaffee in der Hand, kam sie in den Klassenraum. Sie strahlte eine Energie aus, die man fast mit den Händen greifen konnte, stellte ihre Unterlagen ab und griff nach der Tasse. Wir setzten uns, sie trank etwas und sah uns an. Plötzlich schob sie ihren Stuhl zurück, bewaffnete sich mit einer Kreide, während wir es uns auf unserem Stuhl bequem machten, und begann zu erzählen. Nur mit ihren Worten entführte sie uns in eine Welt der Könige, Kriege und Krankheiten. Das Mittelalter. Beim Erzählen lief sie immer hin und her und schrieb ab und zu etwas an. Ich fühlte mich wie gefangen in ihrer Erzählung, mit der sie Geschehenes wiedergab. Das Klingeln der Pausenglocke brachte uns immer wieder zurück in die Wirklichkeit.

Erschrocken sehe ich auf mein Handy, das wild geworden auf dem Boden neben mir vibriert. Wütend ignoriere ich den Anruf und denke über meine neue Schule nach. Mein Herz rast bei dem Gedanken, in eine völlig fremde Schule in einem fremden Ort, mit völlig fremden Lehrern und Schülern zu kommen. Ich kenne mich dort nirgends aus und fühle mich selbst wie ein Fremder. Ich habe Angst, dass ich dort keine Freunde finden werde, dass ich nicht mit den Lehrern klarkommen werde, dass einfach alles schieflaufen wird. Mein Atem geht schneller.

Um mich abzulenken, zerre ich an dem Karton vor mir und halte schließlich meine Fotobücher in der Hand. Im Schneidersitz verweilend, schlage ich die letzte Seite auf: Ein Foto von mir selbst. Ich strahle überglücklich in die Kamera. Lächelnd blättere ich ein paar Seiten zurück und sehe eine Person, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen scheint. Das Gesicht ist eingefallen und wirkt gräulich. Die Augen scheinen überdurchschnittlich groß und matt. Aufgrund der Statur könnte meinen, dass es ein Grundschulkind ist. Doch ich bin es, mit fünfzehn, die da auf dem Familienfoto in die Kamera schaut. Und lächelt, obwohl ich mich damals nicht gut gefühlt habe.

Überhaupt nicht gut.

Das Gespräch mit meinem Arzt hatte meine ganze Sicht auf die Dinge geändert. Ich war krankhaft untergewichtig, hatte er gesagt. Als wir an dem Abend zu Hause ankamen, waren meine Eltern völlig aufgelöst und hatten sich übermüdet ins Wohnzimmer gesetzt, nachdem sie mich ins Bett gebracht hatten. Mir war den ganzen Tag über schon so kalt gewesen, obwohl es Hochsommer war. Eingekuschelt in meine Bettdecke versuchte ich zu schlafen. Es gelang mir nicht. Ich hatte Angst, dass ich einschlafen und nie mehr aufwachen würde. Außerdem taten meine Knie weh und rieben knochig aufeinander, wenn ich meine Beine übereinanderschlug.

Ich werde aus der Vergangenheit gerissen, als sich plötzlich die Sonne einen Weg durch die Wolken bahnt und mein Zimmer in Goldtönen erstrahlen lässt. Das Licht fällt mir direkt in die Augen, sodass ich geblendet werde. Durch meine geschlossenen Lider sehe ich die überwältigen Farben der Sonnenstrahlen und erinnere mich:

Ein paar Monate später war endlich der Tag, der mein Leben hoffentlich für immer verändern sollte. Ich saß im Wartezimmer meines Arztes und beobachtete meine Beine. Vergeblich versuchte ich, meine Oberschenkel mit den Händen zu umfassen. Gut so. Ein Mädchen gegenüber von mir beobachtete mich. Ihre Haare hingen in dünnen Strähnen an ihrem knochigen Gesicht hinab. Sie wirkte, als ob ein schwacher Windstoß sie fliegen lassen könnte. Ich versuchte zu schlucken, doch mein Hals war zu trocken. Sie sah genauso aus, wie ich. Vorher.

Dasselbe Licht wie jetzt war an dem Tag durch das Fenster in der Praxis gefallen, als ich mich auf die Waage gestellt hatte. Ich hatte zugenommen. Jetzt ist gut, hatte mein Arzt gemeint und meine Eltern und mich nach einem weiteren Gespräch entlassen. Meine Mutter hatte das Foto, auf dem ich wahrhaft glücklich bin, an dem Tag gemacht, an dem ich offiziell nicht mehr magersüchtig war. Wir hatten alle gestrahlt.

Ich bin gesund. Ich bin völlig gesund und kann nicht unangenehm in der neuen Schule auffallen, sage ich zu mir selbst und ordne die Fotoalben in ein weiteres Regal. Dennoch habe ich Angst, dass ich nicht akzeptiert werde. Wütend über mich selbst laufe ich ein paar Mal in meinem Zimmer hin und her. Letztendlich bleibe ich vor meinem Spiegel stehen und blicke mir selbst tief in die Augen. Blau. Ich kann seit dem Umzug keinen Fisch mehr sehen. Früher hatte ich Fischgerichte geliebt.

Meine beste Freundin ist mit meinem Ex-Freund zusammen. Früher hatte sie ihn nicht einmal gemocht. Sie ruft mich jeden Tag an und will wahrscheinlich, dass ich sie verstehe. Doch ich bin zu verletzt von ihrem Betrug. Besonders, dass sie es mir nicht gesagt hat. Ich habe die beiden turtelnd in der Stadt gesehen und sie gefragt, was das soll. Sie waren geschockt, sahen einander panisch an und konnten mir nicht einmal mehr in die Augen schauen.

Das war ein Tag vor dem Umzug.

Mein Blick gleitet zu meinen Händen. Roter Nagellack.

Wann hatte ich angefangen meine Fingernägel zu färben?

Ich merke erst jetzt, dass sich so vieles auf einmal verändert hat. Es gibt kein Leben ohne Veränderungen. Und man kann kaum wissen, auf welche Weise sich etwas verändert. Warum ich solche Angst vor Veränderungen habe, kann ich mir immer noch nicht erklären. Doch ich weiß ganz tief in mir drin, dass mit der Zeit alles gut werden wird. Zumindest irgendwie „gut“. Ich lächele. Ich denke, ohne Veränderungen gäbe es keine Hochs und Tiefs im Leben. Beide stehen in Beziehung zueinander. Das eine kann ohne das andere nicht existieren.

Und jetzt, lieber Leser, schau dich um: Was hat sich in deinem Leben schon alles verändert? Was verändert sich jetzt gerade?

Hast du dich verändert? Warum soll sich etwas verändern?

Achte auch auf die kleinen Dinge.

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